texte von andreas staudinger

ORTSGEDÄCHTNIS – GEDÄCHTNISORTE                                                                                                 vortrag auf der psychiatrisch-psychosomatische tagung, graz 2015

© andreas staudinger

ich lebe in einem ehemaligen konzentrationslager.                                                                       ich lebe in einem schloss inmitten unverbauter landschaft.

es ist eine wichtige entscheidung, mit welchem satz ich meinen text beginne. assoziationen tauchen da bei jedem sofort auf, bilder, die über gewissen orten liegen, die man zu kennen glaubt, obwohl man nie dort war. das wort „schloss“ oder auch der begriff „landschaft“ – beide wecken in uns zumeist positive empfindungen und angenehme gefühle, vor allem, wenn wir dabei, völlig unkritisch, an das freie, nicht verhüttelte land denken. wir stellen uns ritter vor, grafen, gediegenes mobiliar, wiesen, bäche, schluchten und grüne bergrücken, noch nicht rücksichtslos beschädigt oder gar unwiederbringlich zerstört durch menschliche eingriffe. wir sehen bilder einer schönen, alle sinne erfreuenden natur vor uns, wie wir sie durch zahllose darstellungen aus literatur, malerei, film und fernsehen kennen. wir sind überzeugt, dass alles, was unser auge nicht beleidigt, eine beruhigende und erholsame wirkung auf uns ausübt und uns seelischen frieden und ausgeglichenheit verschaffen kann. das „land“ gilt im gegensatz zum urbanen raum als wundersamer tröster und heiler. als bereich des rückzugs, aus dem wir kräfte schöpfen.

wir übersehen dabei allerdings, dass die natürlichen, scheinbar naturbelassenen landschaften und viele historische stätten, nichts anderes sind als produkte unserer einbildungskraft. landschaft ist immer vom menschen geprägt. unberührte, wilde natur gibt es nirgends mehr in europa.

der „liebliche ort“ (locus amoenus) oder die „konstruktion von landschaft“

„landschaft ist ein konstrukt“, das ist lucius burckhardts[1] lapidare kernthese, um die er seine „spaziergangswissenschaft“ entwickelte. wenn sich in unserer vorstellung eine landschaft aufbaue, so bediene sich seiner meinung nach unser kopf einer palette von in der umwelt vorgefundenen erscheinungen: farben, strukturen, erkennbaren natürlichen zusammenhängen und zeichen menschlicher eingriffe. „die umwelt gleicht einer palette, die ein maler benützt … die aus den elementen der palette aufgebaute landschaft orientiert sich am ideal des ‚lieblichen ortes’, ‚des locus amoenus’, wie er durch malerei und literatur seit homer und horaz über claude lorrain, die romatiker und schließlich die prospekte unserer fremdenorte und zigarettenreklamen vermittelt wird.“

landschaft als lieblich zu erkennen, wäre demnach der versuch, das am besuchten ort wirklich gesehene zu filtrieren und aufgrund unserer erinnerungen so einzuordnen, dass es in eine unserer idealvorstellungen des „lieblichen ortes“ integriert werden kann: je mehr das gesehene unserer erwartung entspricht – dem in der untergehenden sonne leuchtenden berggipfel, dem brunnen vor dem tore, dem rauschenden bach mit der mühle, dem pittoresken schloss – desto höher unsere befriedigung.

und wenn ich ganz unreflektiert und vorerst einmal unbelastet von diesen theoretischen erwägungen der neuen landschaftstheorie-debatten das wort „landschaft“ und „schloss“ höre, erinnere auch ich mich zuerst einmal an meine kindheit in einem kleinen dorf im oberösterreichischen salzkammergut. wörter wie „mauthausen“ oder „konzentrationslager“ spielten da keine rolle (und das, obwohl meine großeltern mütterlicherseits bereits 1934 zu den ersten illegalen nazis im ort gehörten).

auch mein verhältnis zu „landschaft“ hat auf den ersten blick viel mit empfindungen, imagination und nicht zuletzt erinnerungen zu tun. von klein auf war ich von bestimmten wiesen, wäldern, hügeln und gewissen gebäuden in meiner umgebung auf magische weise angezogen (über meinem geburtsort thront eine verfallene burg, im dorf selber befinden sich ein verfallendes renaissance-schloss und ein weitläufiges sensenwerk-areal der jahrhundertwende. all diese wunderorte besuchte ich mit meinem geliebten nazigroßvater oft): besonders die ruine weckte meine neugier, rief in mir den wunsch nach rekonstruktion, verstehen und eintauchen in diese fremde – und nur mehr halb offenbare – welt wach. das verborgene, dahinter liegende, nicht offensichtliche daran war ein mächtiger motor meiner sich entwickelnden phantasie. noch spannender war es jedoch, diesen geheimnisvollen ort mit meinen kinderfreunden in besitz zu nehmen, mit neuen, eigenen deutungen zu füllen und in wunsch- und indianer- und ritter-spielorte zu transformieren …

viele jahre später, erst durch meine zusammenarbeit mit dem römischen regisseur pino di buduo in dessen internationalen „città invisibili“–projekten[2], die von italo calvinos roman „unsichtbare städte“ inspiriert waren, ergab sich für mich die praktische möglichkeit, diese kindlichen sehnsüchte in konkrete theatralische formen umzugießen. die reisen mit ihm und seinem „teatro potlach“, die uns um die halbe welt führten, war eine art initiation für mich – erstmals war es mir (einem theaterautor, also einem schreibtischtäter) möglich, nicht nur auf dem papier worte in orte zu verwandeln, sondern in und an konkreten orten zu arbeiten.

ab mitte der neunzigerjahre begann ich mich schließlich verstärkt mit orten zu beschäftigen und sie  fernab ihrer oberflächenästhetik verstehen zu lernen. foucaults nach wie vor empfehlenswerte untersuchung zu englischen gefängnissen „überwachen und strafen“[3], in der er beschreibt, wie architektonische strukturen uns prägen, wie sie auf subtile art gewalt über uns ausüben, wies mir da unter anderem den weg. und seither arbeite ich in spitälern, in schulen, auf bahnhöfen, in fertighäusern, in shoppingmalls genauso wie in historischen ensembles, an flüssen oder seen. und ich arbeite dort lieber als in der black box des herkömmlichen theaters.

kleine ortskunde

was ist nun eigentlich ein ort? ein ort („topos“, „situs“) ist im unterschied zum raum ein schnittpunkt, ein knoten. er entsteht dort, wo sich linien, vektoren kreuzen. der ort ist vielfältig und bunt und er gruppiert dinge („geliebte objekte“ nennt sie beispielsweise tilmann habermas[4] und definiert sie als symbole und instrumente der identitätsbildung); diese geben ihm sinn. der raum dagegen ist unbestimmt, abstrakt – er birgt das mögliche in sich, er ist quasi potentielle energie, ein spannungsfeld. es gibt den luftraum, den virtuellen raum, die raumplanung. der raum stützt sich auf kein ereignis, auf keine mythen oder geschichten. wird das potential des raumes aktiviert, entsteht ein ort. ein ort ist also ein punkt des raums, der die verstreut herumliegenden dinge konzentriert, zusammenbringt und der identität stiftet, weil er erinnerungen in sich versammelt.

aus dem wort „situs“ leitet sich aber auch der begriff der „situation“ her – hegel, heidegger, jaspers, husserl, sartre und danach die französischen situationisten haben sich eingehend damit beschäftigt. „situation“ bezeichnet grundsätzlich die lage, die gebundenheit an gegebenheiten oder umstände, vor die jemand oder unter die ein vorhaben oder eine sache gestellt ist. allgemein ist sie die befindlichkeit in einer umgebung, einem zusammenhang oder einer abhängigkeit. situation ist dabei stets „situation von …“. auch wenn die „situation“ ohne expliziten bezug auf ein subjekt genannt wird, ist sie immer auf ein situiertes (gelegenes, gestelltes, betroffenes) bezogen.

unsere wahrnehmung von „situationen“ ist dabei aber selten auf ein einzelnes objekt, eine eng definierte reizkonstellation konzentriert. im alltag nehmen wir weniger einzelheiten als gesamtheiten wahr, das, was der philosoph gernot böhme[5]atmosphären“ genannt hat. wahrnehmung wird dabei als ein akt eines umfassenden spürens begriffen, der nicht auf die rezeptive tätigkeit eines einzelnen sinnesorgans reduziert werden kann: „es sind weder empfindungen noch gestalten, noch gegenstände oder deren konstellationen, wie die gestaltpsychologie meinte, was zuerst und unmittelbar wahrgenommen wird, sondern es sind die atmosphären, auf deren hintergrund dann durch den analytischen blick so etwas wie gegenstände, formen, farben und so weiter unterschieden werden.“

der wahrgenommenen atmosphäre korrespondiert im wahrnehmenden subjekt aber eine ähnlich diffuse befindlichkeit, die man am besten als „stimmung“ bezeichnen könnte. auf atmosphären reagieren wir nicht mit zustimmenden oder ablehnenden urteilen, sondern mit stimmungen. wir fühlen uns in einer situation (sei sie räumlich oder gesellschaftlich) eher wohl oder unwohl, eher frei oder beengt, eher unbehaglich oder entspannt, eher geängstigt oder geborgen, eher aufgeregt oder gelangweilt. diese diffusen stimmungen und ihre korrelate können sich allerdings zu präzisen wahrnehmungen und ebenso präzisen reaktionen verdichten. dann sehen wir etwas, hören etwas, unsere sinnesorgane werden in einer weise gereizt, dass wir darauf auch reagieren können oder reagieren müssen. aus der flut von eindrücken, die wir kaum wahrnehmen, kristallisieren sich jene heraus, die für uns von bedeutung sind: das, was die psychologie als signale bezeichnet.

genauso unreflektiert wie der begriff der „atmosphäre“ wird heute auch gern der „genius loci“ bemüht, wenn es um eine beschreibung von orten geht[6].

jedem ist dieser begriff sicher schon irgendwann einmal untergekommen, sei es, dass philologisch angehauchte professoren ihn im munde führten, sei es, dass enthusiasmierte fremdenführer ihn als geheimwaffe oder als potenzierung der eigenen ergriffenheit benutzten oder feinfühlige architekten oder landschaftsplaner darauf hingewiesen haben. seit pope steht dieses zauberwort für alle qualitäten des ortes, die sich präziser benennung entziehen, vorzugsweise also für das atmosphärische geheimnis der harmonischen verbindung von architektur und ort, von bauwerk und landschaft.

die lateinische aura, die diesen begriff umweht, lässt vermuten, dass es sich hierbei eher um ein sujet der klassischen poesie als um ein objekt der theorie handelt, dass der genius loci eher metapher ist als begriff. und dennoch hat dieses nur atmosphärisch zu konstatierende eigenleben eines ortes kunst und literatur, religiöse vorstellungswelten genauso wie praxis und theorie der architektur, ja sogar das siedlungswesen seit der antike beschäftigt.

wie könnte man nun diesem magischen, viel beschworenen „geist des ortes“, der sich in atmosphären und stimmungen äußert, auf die spur kommen, wie ließe er sich wissenschaftlich untersuchen, wie könnte eine phänomenologie von orten, die sich nicht nur auf oberflächen bezieht, aussehen?

einen ort lesen

von der 110. etage des world trade centers (welche ironie, dass der beobachter gerade dieses gebäude damals ausgesucht hatte!) sehe man manhattan auf ganz besondere art, beschreibt michel de certeau 1980 in seiner „kunst des handelns“[7] . „unter dem vom wind aufgewirbelten dunst liegt die stadt-insel. (…) eine dünung aus vertikalen. für einen moment ist die bewegung durch den anblick erstarrt. die gigantische masse wird unter den augen unbeweglich. sie verwandelt sich in ein textgewebe, in der die extreme des aufwärtsstrebens und des verfalls zusammenfallen, die brutalen gegensätze von gebäudegenerationen und stilen, die kontraste zwischen gestern geschaffenen buildings, die bereits zu mülleimern geworden sind, und die heutigen urbanen erruptionen, die den raum versperren. im gegensatz zu rom hat new york niemals die kunst des alterns und des spielerischen umgangs mit der vergangenheit erlernt. seine gegenwart wird von stunde zu stunde erfunden, indem das vorhandene verworfen und das zukünftige herausgefordert wird. eine stadt, die aus paroxystischen orten in form von monumentalen reliefs besteht. der betrachter kann hier in einem universum lesen, das höchste lust hervorruft. dort stehen die architektonischen figuren der coincidatio oppositorum geschrieben, die früher in mystischen miniaturen und textgeweben entworfen worden sind. auf dieser bühne aus beton, stahl und glas, bilden die größten schriftzeichen der welt eine gigantische rhetorik des exzesses an verschwendung und produktion.“

mit welcher „erotik des wissens“ fragt sich certeau, der hier die perspektive von dädalus, des ersten voyeurs, der alles „von oben sah“, einnimmt, könne die ekstase, einen solchen kosmos „zu entziffern“ verglichen werden und woher die lust komme, diesen maßlosesten aller „menschlichen texte“ zu buchstabieren …

die metapher des „lesens“ von orten („texturologie“) – die umfassende untersuchung im gegensatz zum bloßen sehen, betrachten desselben, die nicht nur von certeau, sondern einer vielzahl von architekten, philosophen, geographen, abenteurern, flaneuren (besonders in hinblick auf die stadt) verwendet wurde und wird, hat einen ungewöhnlichen reiz und ich halte sie nach wie vor für die beste methode, soviel wie möglich über orte zu erfahren. eine landschaft, einen wald, einen garten durch das körperliche durchziehen des raums (und das ist wichtig: orte kann man nur vor ort begreifen, begehen) zu lesen wie eine sich ständig erneuernde enzyklopädie, baum für baum, fluss für fluss, stein für stein, eine stadt als lebendiges, sich allzeit in bewegung befindliches, organisches museum, als kollektiven und zugleich individuellen gedächtnisraum zu sehen (der die poesie der fenstergitter speichert genauso wie die traurigkeit der müllcontainer,  die schönheit der verkehrsschilderwälder, die ästhetik der highway-verknotungen, die synästhetischen farb-symphonien der leuchtreklame-fassaden,  etc.), das ist eine ganz besondere art der erfahrung. sie so als symbolische, jedoch betretbare „lektüre- oder bedenk- und erinnerungsräume“ zu sehen, erweitert das feld unserer erkenntnisse beträchtlich und stellt darüber hinaus einen poeto-historischen und psycho-geographischen speicher par excellence dar.

orte sind wie offene, begehbare bücher, jeder kann auf seine weise in sie eintauchen.

alphabet, grammatik, rhetorik eines ortes

akzeptiert man die „lese-metapher“ als handwerkszeug im umgang mit orten, dann muss jeder ort sein bestimmtes alphabet (landschaftliche oder archtektonische objekte), seine grammatik (funktion, regeln, abmachungen) und seine rhetorik (praxis) haben. die meisten menschen sind allerdings so damit beschäftigt, diesen ihren orts-text zu schreiben, dass sie verlernt haben, sein alphabet zu buchstabieren oder sich auf seine grammatikalischen strukturen einzulassen. wir sprechen unsere muttersprache ja auch, ohne über das wesen der grammatik nachzudenken (das tun wir nur in der schule und normalerweise mit beträchtlichem widerwillen).

der semiotiker  ferdinand de saussure[8] bietet für die untersuchung von sprachen die unterscheidung in langue (den komplex von regeln und konventionen, die eine sprache konstituieren) und parole (die praktizierte sprache, in der diese regeln ausgedrückt werden) an, eine unterscheidung die auch beim orte-lesen brauchbar ist. in diesem sinn betrachtet certeau einen ort als ein geordnetes und ordnendes system, das erst durch örtliche praktiken (das gehen, sich bewegen am ort) realisiert wird. und genau wie de saussure die „langue“ begreift als etwas, das immer erst in einer praxis realisiert werden muss, aber nie völlig manifest wird in einzelnen linguistischen äußerungen, macht er deutlich, dass – obwohl die straßen von den stadtplanern geometrisch definiert seien – erst die gehenden sie in einen ort transformierten. auf dieselbe art wie der leseakt werde der raum erst durch die praktiken eines bestimmten ortes erzeugt.

untersucht man orte nun so als wären sie lesbare texte, lassen sie sich phänomenologisch auf vielerlei weise unterscheiden: es gibt orte, die nur in der literatur existieren wie die „utopien“ (die „kein-orte“) oder die „phantastischen orte“ wie kafkas „schloss“, an bestimmten orten sind wir zum beispiel schon bevor wir sie betreten, sensibilisiert für ihre spezielle aura – friedhöfe, gedenkstätten, spitäler gehören dazu. diese orte verstören uns, weil sie uns zwingen, über die ursachen unserer stimmungen nachzudenken. man kann sich dem tod auf einem friedhof nicht entziehen, genauso wie der auseinandersetzung mit krankheit in einem spital. und schulen, deren klassenräume bis heute nach wie vor auf einen einzigen punkt hin konstruiert sind – nämlich auf den lehrertisch und die tafel, machen jedem schüler von vornherein klar, wie diese gesellschaft strukturiert ist. manche orte wiederum scheinen so normal, so uninteressant, dass man sie selten wirklich bedenkt (die räume, die wir bewohnen beispielsweise – und darum bestimmen inzwischen die möbelcenter oder diffuse „trends“ und nicht die architekturphilosophie oder gesunder menschenverstand unseren wohnraum: nach wie vor sind kinderzimmer kleiner als die sogenannten wohnzimmer, in denen man nicht wohnt, sondern nur fernsieht). andere orte wie bordelle, kirchen, ferienclubs, altersheime, etc. sind so etwas wie realisierte utopien, foucault erfand für sie den begriff des „anderen orts“, der „heterotopie“[9] und schließlich scheinen gewisse orte als orte gar nicht zu existieren, wie etwa bahnhöfe oder flughäfen, dienen sie doch nur dem transit und nicht dem wohnen von irgendwem – „nicht-orte“ nennt sie augé[10].

das „gedächtnis eines ortes“, um das es hier gehen soll, wird meist fast ausschließlich über seine „parole“ verhandelt, über die übereinkünfte, die seine bewohner über ihn treffen. seine „langue“ kann dabei oft völlig vergessen oder verdrängt werden. die entscheidung beispielsweise eine schloss schloss oder ehemaliges konzentrationslager ehemaliges konzentrationslager zu nennen, muss von den ortsbewohnern oder nutzern getroffen werden.

archäologische orte/ruinen

eigenartigerweise berühren uns zum beispiel ruinen aus ferner zeit anders als bauwerke der jüngeren vergangenheit, denn normalerweise wird die durch kernkraftwerke, industrieruinen, autobahnen, etc. gestörte landschaft nicht als schön empfunden – zu sehr stört sie unsere langsam aufgebauten vorstellungen von harmonischer landschaft. erstaunlicherweise akzeptieren wir aber ältere eingriffe gewaltiger art heute so sehr, dass sie zum landschaftsgenuss beitragen, ja unerlässlich sind. aber waren denn die mittelalterlichen burgen nicht auch schreckerregende wehrbauten? sind windmühlen nicht eine moderne form der energiegewinnung, vergleichbar unseren kraftwerken? und haben nicht manche viadukte der semmeringbahn ganze talformationen zerschnitten, obwohl wir sie heute als ästhetische aufwertung derselben sehen? in ruinierter form ist die technische leistung offensichtlich nicht nur integrierter bestandteil der lieblichen landschaft geworden, sondern geradezu ihr indikator: wo die ruine vergangenheit anzeigt, da entsteht für den betrachter übereinstimmung von erwartungs- und erscheinungsbild. nicht umsonst haben die englischen gärtner des 18. jahrhunderts künstliche ruinen in ihre künstlichen landschaften gesetzt.

anders betrachtet ist in archäologischen orten und ruinen die zeit (und damit die erinnerung) quasi sichtbar gemacht: das, was man sonst an architektur nie bewusst wahrnimmt, nämlich ihre historische dimension, ist in ihnen „ausgestellt“. der fluss der zeit scheint hier „geronnen“. ruinen thematisieren vergänglichkeit im musealen, allgemein akzeptierten sinn – vor allem auch, weil von diesen orten kaum mehr eine emotionale bedrohung ausgeht.

dazu kommt der faszinierende aspekt der allmählichen „naturwerdung“ von künstlichem: es lässt sich an ihnen beobachten, wie stein und holz sich über die jahrhunderte wieder zurück zu ihrem ursprung verwandeln.

traumatische/traumatisierte orte

im gegensatz zu meist als schön empfundenen ruinen der älteren geschichte können landschaften und reste von bauwerken aber auch eine ganz spezielle form von gedächtnis beherbergen: solche orte stellen gebäude, plätze und gelände dar, in die beispielsweise der lange zeit verdrängte nationalsozialistische terror eingeschrieben ist. auschwitz, das für viele eine art symbol für den holocaust darstellt, ist so ein ort. das paradoxe an ihm ist jedoch, dass er sowohl real ist (denn es wurden echte menschen dort ermordet) und gleichzeitig imaginär (denn er dient als projektionsfläche für kollektives erinnern), dass er eine pilgerstätte ist und ein friedhof, der nie als friedhof geweiht worden ist.

solche „traumatischen oder traumatisierten orte“ erhalten ihre spezifische aura durch die verbindung von nähe und ferne, denn die affekte sind im ort selbst verankert und kommen durch die erinnerung an dort geschehenen mord, terror und verbrechen unweigerlich zutage, selbst wenn die mörder und opfer längst verschwunden sind. an diesen orten wird das dort stattgefundene geschehen der vergangenheit am deutlichsten spürbar, vergleicht man sie etwa mit denkmälern als erinnerungsvermittlern[11].

schloss lind, wo ich wohne, ist auch so ein ort. hier befand sich von 1942-45 eine außenstelle des KZ-mauthausens – eine von rund fünfzig anderen nebenlagern dieses unorts, die österreich flächendeckend überzogen. verborgen und öffentlich. man konnte diese orte sehen, wollte sie jedoch nicht wahrnehmen (und das geht bis in die gegenwart – das ANDERE museum, das der künstler aramis hier 1996 gründete, wurde in der gegend lange zeit als affront betrachtet. zu gut hatte man das ehemalige außenlager nach dem krieg wieder verschwinden lassen, hatte sich nach dem zweiten weltkrieg die idylle eines luftkurorts und „naturparks“ nicht durch lästige erinnerungen verderben lassen wollen, hatte sich eingerichtet im „seeligen vergessen“).

der verunreinigte ort wurde umbenannt in nur mehr „schloss“, die „parole“ hatte für lange zeit über die „langue“ des ortes gesiegt, die kollektive übereinkunft überlagerte eine bestimmte – weil schmerzende – sicht der des ortes und damit der eigenen geschichte. das war allerdings in österreich nicht die ausnahme.

erst sehr spät begann hierzuland die auseinandersetzung mit der eigenen traumatischen geschichte, die einerseits in form von opfern, tätern, wegschauern, verdrängern andererseits in form von noch sichtbaren orten weiterwirkt, solange die einst involvierten menschen noch leben. was nicht mehr lange dauern wird: die letzten zeitzeugen sterben aus. erst nach ihrem völligen verschwinden, in ein zwei jahrzehnten vielleicht, wird sich die geschichte der nationalsozialisten nicht mehr von der der azteken unterscheiden. die ereignisse werden in eine ferne rücken, die nicht mehr direkt schmerzt und irgendwann werden wir die reste der ehemaligen mordindustrie wahrscheinlich ähnlich ästhetisch wahrnehmen wie die festungsanlagen und kerker des mittelalters. noch allerdings gehen die wunden quer durch die familien …

meine erste verbindung zur NS-zeit hatte ich beispielsweise in form von kopfweh – im kopfweh meines vaters nämlich, der als kind bei einem bombenangriff seine mutter verloren hatte und den seither regelmäßig schwere migräne plagte. und damit die gesamte familie, die in den phasen, wo der krieg in seinem kopf ihn rasend machte (meist vor zorn, er war der archetypische choleriker), in deckung gehen musste. noch stecken die auswirkungen dieser zeit in unseren familienkörpern. und in gewissen orten.

das außenlager schloss lind stellt im kz-system (und erst recht unter einbeziehung der vernichtungsstätten im osten, wo das europäische judentum ausgerottet werden sollte, oder der berüchtigten „euthanasieanstalten“ wie etwa hartheim bei linz) eine scheinbar vernachlässigbare größe dar. dies gilt allerdings nicht für jene häftlinge, die an diesem ort während dreier langer jahre tag für tag einem ungewissen schicksal entgegen sahen. auch in dem kleinen, etwas abgelegenen schloss offenbarte die nationalsozialistische herrschaftspraxis ihren charakter. und dies gilt auch nicht für mich, denn ich lebe an diesem ort. er ist für mich nicht “vernachlässigbar”. er zwingt mich, mich der geschichte zu stellen. er ist nicht neutral, nicht nur ein beliebiger ort.

von den ehemaligen häftlingen sind nur mehr wenige spuren vorhanden. bis auf ein paar kyrillische schriftzüge an der mauer der kasematten eigentlich gar nichts.

letzthin, als ich die ehemalige wehrmauer der spätgotischen burg von wildwachsenden bäumen und sträuchern, die sie zu verschlingen drohten, befreite, verhakte sich meine motorsäge in rostigen stacheldraht. ich wunderte mich, warum an dieser stelle, an der mit sicherheit keine kühe geweidet hatten, so etwas zu finden war. erst als ich kurz danach zufällig ein gespräch mit einer zeitzeugin führte, deren vater die russischen kriegsgefangenen, die hier auch interniert gewesen waren, jahrelang zu den bauernhöfen führen musste, in denen sie zwangsarbeit zu leisten hatten und sie mir so nebenbei erzählte, dass immer dann, wenn sie mit ihrem vater am schloss vorbei ging, diese “geschorenen köpfe der ausgemergelten männer, die in sonderbaren gestreiften anzügen steckten”, hinter dem stacheldraht zu sehen gewesen waren, begriff ich, was ich da gefunden hatte.

bis heute wissen wir nicht einmal die namen der rund fünfzig russischen und französischen zwangsarbeiter (die namen und lebensbedingungen der etwa dreißig im dritten stock internierten KZ-häftlinge sind besser dokumentiert). das notizbuch des vaters der zeitzeugin ist leider verschwunden. und offiziell wurden ihre namen nur dann erwähnt, wenn sie straffällig geworden waren, das heißt “rassenschande” mit einer der einheimischen frauen begangen hatten. darüber gibt die polizeichronik penibel auskunft. dass im ort sklavenarbeit geleistet werden musste, verschweigt sie.

im unterschied zu den meisten anderen lagern gab es keine toten vor ort, wurde niemand ermordet, zu tode geprügelt oder den hunden zum fraß vorgeworfen. die schlimmste strafe war die rückstellung nach mauthausen, die einem todesurteil gleichkam. das beruhigt mich sonderbarerweise. gibt diesem traumatiserten ort ein wenig seiner würde wieder. entschuldigt nichts, aber lässt das erinnern nicht nur zu einer tortur für mich “spätgeborenen” werden, wie dies an vielen anderen unrechtsorten der fall ist.

kontaminierte landschaften

auf eine ganz besondere art traumatisierter orte hat martin pollack jüngst hingewiesen, er nennt sie „kontaminierte landschaften“[12]. damit meint er landschaften, die orte massenhaften tötens waren, das jedoch im verborgenen verübt wurde, den blicken der umwelt entzogen, oft unter strenger geheimhaltung. „nach dem massaker unternahmen die täter alle erdenklichen anstrengungen, um die spuren zu tilgen. die gruben, in die man die toten geworfen hat, wurden zugeschüttet, eingeebnet, in vielen fällen wieder begrünt, sorgfältig mit büschen und bäumen bepflanzt. das, was eigentlich wenigstens ein grab hätte werden müssen, wurde versteckt. nichts sollte darauf hinweisen, dass hier menschen begraben wurden“.

solche stätten, an denen mörder und ihre gehilfen zu gärtnern, zu landschaftsgestaltern wurden, gibt es viele in mittel- und in osteuropa. dort kann man keine häuser, keine vergnügungsparks, keine golfplätze errichten. diese orte sind für immer stigmatisiert. ihre zahl ist erschreckend hoch: die namen babyn jar, katyn, kurapaty, bikernieki, huda jama oder paneriai stehen stellvertretend für hunderte andere ort in ost- und mitteleuropa, in ungarn, in tschechien, in der slowakei, in slowenien, in rumänien, in polen, in litauen, in lettland, in der ukraine, in belarus, wo nicht nur in fest eingerichteten, umzäunten, streng bewachten und straff organisierten lagern, sondern irgendwo an geeigent erscheinenden plätzen, oft weitab von menschlichen siedlungen, massaker verübt und die leichen anschließend verscharrt wurden. die liste der orte ließe sich mühelos verlängern. die kontaminierten landschaften sind überall. wir wissen, dass es sie gibt. die genaue lage kennen wir oft nicht. viele gräber werden vielleicht nie gefunden werden. dann bleiben diese ermordeten anonym, gesichts- und namenlos, ohne geschichte. ein haufen knochen, sonst nichts.

meine schrecklichste erinnerung an kiew, das ich vor einigen jahren besuchte, war nicht das chaos, das auseinandersetzungen um die orange revolution verursachte, die ich am rande miterlebte, sondern die so friedlich vor mir liegenden „killing fields“ von  babyn jar.

aber auch hier in der steiermark, in niederösterreich, im burgenland, in oberösterreich wurden im zwanzigsten jahrhundert menschen außerhalb der offiziellen lager ermordet (vor allem ungarische juden auf ihrem todesmarsch nach mauthausen) und anschließend namenlos verscharrt. auf dass sie keiner finde. sie sollten im wahrsten sinn des wortes „aufgehen“ in der landschaft. gras sollte darüber wachsen. erst in letzter zeit versuchen historiker und engagierte menschen vor ort, diesen opfern ihre namen wiederzugeben.

gewalttätige ereignisse verändern jedoch nicht nur die sprache und die menschen, die daran teilhaben, sondern auch die orte, an denen sie stattfinden. in der natur nimmt die gewalt eine andere form an als in einem geschlossenen lager, umgeben von stacheldraht und wachtürmen. in der landschaft legen die täter ein anderes verhalten an den tag, sie passen sich den vor ort gegebenen bedingungen an und richten sich nach dem jeweiligen gelände, nach dem raum – den sie, umgekehrt, durch ihr tun, durch das ausheben der gruben, die exekutionen, das zuschütten und tarnen der massengräber, neu gestalten.

wenn wir erst einmal wissen, was hier geschehen ist, nehmen wir solche orte anders wahr als vorher. und sie verändern uns.

doch orte halten erinnerungen nur dann lebendig, wenn menschen dafür sorge tragen. traumatisierte orte und kontaminierte landschaften können mit erinnerung beladen oder von amnesie befallen sein, je nachdem wie die gesellschaft mit der erinnerung umgeht. die kennzeichnung von solchen belasteten orten durch die gesellschaft ist heute noch keine selbstverständlichkeit. im gegenteil – nach wie vor finden sich an vielen stätten ehemaliger massenhinrichtungen noch immer keine hinweise oder bezeichnungen. geschweige denn, dass man den opfern ihre namen und damit ihre würde wiedergegeben hätte. martin pollack plädiert für das erarbeiten einer großangelegten topografie des terrors, einer landkarte der kontaminierten orte für ganz europa. es ist für die opfer und für uns notwendig, uns der geschichte und den dunklen seiten solcher plätze zu stellen und die erinnerung nicht stellvertretend an auschwitz, mauthausen oder treblinka zu delegieren. wir sollten wissen, wo wir über leichen gehen.

denkmäler/gedenkorte

viele landschaften haben jedoch schon lange vor dem nationalsozialistischen terror ihre vermeintliche unschuld verloren – durch kriegerische ereignisse, die wir noch viele jahrzehnte später mit dem namen der jeweiligen gegend verbinden. wir brauchen nur an die ardennen zu denken, an die somme, an das iszonzotal, die wild zerklüfteten dolomiten, die karnischen alpen. europa ist übersät von schlachtfeldern, schauplätzen zermürbender stellungskriege, blutiger offensiven und gegenoffensiven, ganze landstriche wurden so zu metaphern für sinnloses kämpfen und sterben. in der kollektiven erinnerung wurden diese regionen zu kriegslandschaften, über die sich bis heute eine düstere atmosphäre des todes zu breiten scheint. aber auch nach dem zweiten weltkrieg hörte das morden in europa nicht auf: der boden des ehemaligen jugoslawiens ist nach den grausamen ereignissen der jahre 1990-95 ein riesiger friedhof und die ostukraine wird das ebenfalls bald sein.

solche orte mit den obligaten erinnerungsstätten finden wir heute überall (nicht nur in europa). heldenfriedhöfe, kriegerdenkmäler, säulen, obelisken, ossarien. sie formen und prägen die landschaft, drücken ihr einen stempel auf und erinnern, je nach standort und denkmalschöpfer, an unterschiedliche nationale mythen, ideale und politische bedürfnisse. sie spiegeln erfahrungen von gesellschaften und das selbstbild des jeweiligen staates wider.

an den meisten dieser stätten gedenkt man jedoch auf eine exklusive art, die viel über unsere kollektiven verdrängungsmechanismen verrät. manchen opfern, beispielsweise den juden, roma und sinti, den widerstandskämpferinnen, homosexuellen und ermordeten der psychiatrie hat man bis heute kaum denkmäler errichtet. die rühmlichen ausnahmen sind rar.

wie aktuell dieses thema noch immer ist, zeigt eine neuerliche schmieraktion am auto und privathaus des künstlers josef schützenhöfer, dessen „liberartion marker“ (ein kunstwerk,  das auch an die gefallenen amerikanischen bomber im steirischen pöllau erinnern soll und nicht nur an die einheimischen „helden“) schon 2011 von unbekannten tätern beschädigt worden ist, der abbau der erinnerungsstationen und die beschmierung der „stolpersteine“ in der grazer innenstadt .

die errichtung von denkmälern, die ein ganz bestimmtes festhalten von erinnerung darstellen (wie es eben die unzähligen kriegerdenkmäler der beiden weltkriege tun, wo man aus tätern opfer macht, „helden“, die für ihr „vaterland gestorben sind“ und alles andere ausblendet – ein solches denkmal steht natürlich auch in pöllau), kann aber auch, als auslagerung und produktion von dem, was lyotard „deckerinnerungen“[13] nennt, gesehen werden. diese deckerinnerungen formen die kollektiven erzählungen mit denen man die eigenen verbrechen kaschieren kann. der zweite weltkrieg als „verteidigungskrieg“, der auch im osten geführt werden musste und österreich als erstes opfer der nationalsozialisten, beispielswiese, sind  zwei dieser erinnerungskonstruktionen, auf der ein teil der gesellschaft nach dem zweiten weltkrieg aufbaute.

erinnerungsarbeit: schloss lind und das ANDERE heimatmuseum

auch auf schloss lind tragen wir eine verantwortung und stellen uns  – seit wir 2010 das ANDERE heimatmuseum[14] übernommen haben – die frage, wie man richtig „gedenken“ soll, wie man die erinnerung nicht musealisiert, sondern wachhält. aramis, der museumsgründer  – ganz kind der achtundsechziger und des wiener aktionismus – hat dafür seine speziellen, stark symbolischen „assoziativen installationen“ geschaffen, kunstwerke, die den betrachter gefühlsmäßig erreichen, ja ihn schockieren sollten. das ist nicht britta sievers und mein weg. wir versuchen mehr über kommunikation mit der ländlichen bevölkerung denk- und gedenkbarrieren zu überwinden, wir setzen auf eine neue generation, der wir zivilcourage als haltung näherbringen wollen. wir laden die unterschiedlichsten künstler und wissenschafter ein, mit uns zusammen diesen prozess des nie vergessens und trotzdem vorwärts denkens voranzutreiben.

ausblick

die suche nach perspektiven unserer nomadischen existenz, die frage nach sinn und notwendigkeit eigenen handelns im ideal einer wie auch immer gearteten historischen kontinuität lenkt den blick wieder darauf, dass orte zugleich erinnerungen bedeuten: erinnerungen an die generationen vor uns, deren hoffnungen wir ererbt haben, an die zahllosen schichten, die unser individuelles und kollektives gedächtnis bilden. schichten, die in den alten städten oft auch materiell übereinander gelagert sind, geradezu sinnbildlich für unsere kulturelle existenz, wie etwa die schutthügel der antiken kultur, auf die die menschen des mittelalters ihre kirchen setzten, die wiederum von den architekten des barock mit stuck überzogen und von uns schließlich mit glas und stahl „zeitgemäß“ renoviert wurden und in dieser form den vorläufigen endpunkt des weiterbauens, ablagerns, übernehmens und überdenkens darstellen. sinnbild also der tatsache, dass unsere eigene geistige wie emotionale existenz und unsere gesamte kultur aus solchen ablagerungen besteht.

gehe ich in schloss lind holz für meine kachelöfen holen, um die extremen winter hier zu überleben (es gibt hier keine zentralheizung und keinen e-herd und das personal, das früher hier so zahlreich vorhanden war, fehlt heute leider, ich bin mein eigener knecht), mache ich jedes mal eine zeitreise: ich durchquere korridore und räume, die in der renaissance über einem mittelalterlichen bauernhof angelegt, im barock übermauert und im 20. jahrhundert wiederum verändert und schließlich während der NS-zeit als gefängnis umfunktioniert worden sind. ich höre die tritte von mägden und verwaltern, von grafen und ihren mätressen, von äbten wie das müde schlurfen der holzpantinen von zwangsarbeitern und KZ-häftlingen. all das vermengt sich zu einer atmosphäre, die mir – je nach eigenem zustand – wohltut oder mich quält.

auch wenn ich irgendwo wandere oder spazieren gehe, nehme ich unweigerlich die vergangenheit in den blick. ich versuche mir vorzustellen, was hier geschehen sein könnte. ich frage mich: hat diese landschaft, dieses gebäude etwas zu verbergen? ist sie tatsächlich so unschuldig, so idyllisch, wie es den anschein hat?

die gestaltete landschaft um schloss lind beispielsweise hat eine wahrscheinlich fast dreitausendjährige menschliche geschichte. bei jedem tritt, den man hier tut, tritt man auf erinnerungen. man muss sie nur finden wollen. alles erzählt, wenn ich ihm fragen stelle. mir ist bewusst, dass der weg, auf dem ich gehe, wahrscheinlich von KZ-häftlingen oder russischen zwangsarbeitern errichtet wurde. wenn ich der hundescheiße ausweiche, die hier überall liegt, erkenne ich, was den vielen menschen, die hier mit ihren hunden spazieren fehlt: nämlich nähe, ein geliebter mensch, wenn ich rostigen, porösen stacheldraht auf einer der weiden entdecke, wird mir deutlich, wie man vor gar nicht langer zeit nicht nur kühe, schafe und pferde damit einsperrte, sondern auch zu häftlingen gemachte menschen, wenn ich auf die geschmiedete spitze einer gabel stoße, die die ochsen auf den weiden oft ausscharren, wird mir klar, was durch die industrialiserung an handwerklichen fähigkeiten verloren gegangen ist, wenn ich die nägel eine römischen legionärssandale finde, erzählt sie mir unendlich viel über ein imperium, das nur durch gewalt und geld (auch gelegentliche römische münzfunde sind hier zu machen) zusammenzuhalten war und wenn ich über die nahe liegenden hügel wandere und die noch heute überall gut sichtbaren wallanlagen in der natur sehe, wird augenscheinlich, dass die macht der hallstattzeitlichen fürsten mit angst erkämpft war und mit hohen mauern.

und je mehr ich über diese landschaft, in der ich wohne, herausfinde indem ich sie nicht nur betrachte, sondern auf meine weise lese, desto mehr erfahre ich auch über mich, der ich mich entschlossen habe, hier und nicht anderswo zu leben. ich bin ein teil dieses ortes. und ich werde einmal ein teil der geschichte dieses ortes sein. auch ich werde spuren hinterlassen.

ich wohne in einem ehemaligen KZ. ich wohne in einem schloss.

keine angst: manchmal gehe ich auch einfach nur mit meiner frau spazieren, damit sie mich nicht für ganz verrückt hält und finde diese eiszeitliche landschaft, in der schloss lind steht – ganz selbstvergessen – nur schön. schrecklich schön.

 
[1] burckhardt, lucius: warum ist landschaft schön? die spaziergangswissenschaft. kassel 1980
[2] città invisibili: fara sabina – klagenfurt – malta. hrsg. von guarino, raimondo und staudinger, andreas.   klagenfurt 1993;  staudinger, andreas: nachtgänge. 2011
[3] foucault, michel: überwachen und strafen. frankfurt 1994
[4] habermas, tilmann: geliebte objekte. frankfurt/main 1999
[5] böhme, gernot: atmosphäre. frankfurt/main 1995
[6] pieper, jan: über den genius loci. in: kunstforum 69
[7] certeau, michel de: kunst des handelns. berlin 1988
[8] de saussure, ferdinand: grundfragen der allgemeinen sprachwissenschaft. berlin1967
[9] foucault, michel: die heterotopien, frankfurt 2005
[10] augé, marc: orte und nicht-orte. vorüberlegungen zu einer ethnologie der einsamkeit. frankfurt/main 1994
[11] farkas, anita: kollektives gedächtnis und erinnerungsbedarf in der steiermark; diplomarbeit. klagenfurt 2001
[12] pollack, martin: kontaminierte landschaften. st. pölten-salzburg-wien 2014
[13] lyotard, jean-françois,: streitgespräche, oder sprechen „nach auschwitz”. bremen  1981
[14] staudinger, andreas: baustellen. über den ruinenbaumeister aramis. graz 2013; www.schlosslind.at